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Nils Köhler / Rainer Stommer
Von der „Führerschule“ zum „Lern- und GeDenkOrt Alt Rehse“ – ein Projekt in der Bundesgedenkstättenförderung
Wo zwischen 1935 und 1941 die Nationalsozialisten ein ganzes Dorf für die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ umgestalteten, entsteht heute ein neues Ausstellungs-, Dokumentations- und Bildungszentrum: der „Lern- und GeDenkOrt Alt Rehse“.
Die bis 1941 für die Zwecke der NS-Ideologen in der Tradition der Heimatschutzarchitektur gebauten 60 Fachwerkgebäude sind weitgehend erhalten und stellen ein einmaliges Flächendenkmal dar.
In Alt Rehse, wo Mediziner ideologisch u.a. auf die Euthanasie vorbereitet wurden, sind besondere Einblicke in die Verstrickung der Ärzteschaft in die verbrecherische NS-Ideologie der „Rassenhygiene“ und in die Grenzverschiebung medizinethischer Fragen möglich. Mit der umfassenden Aufarbeitung der Geschichte der „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ wird ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus geleistet.
Der Träger des „Lern- und GeDenkOrtes Alt Rehse“: die Gutshaus Alt Rehse gGmbH (GAR).
Die GAR wurde 2009 von den Vereinen Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse e. V. (EBB Alt Rehse) und Beth Zion e. V. gegründet. 2014 trat als weiterer Gesellschafter die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) der Gesellschaft bei.
Der Verein EBB Alt Rehse wurde 2001 mit Unterstützung der Gemeinde Alt Rehse und des Landes Mecklenburg-Vorpommern gegründet. Zu den Aufgaben des Vereins zählen unter anderem die historisch-kritische Aufarbeitung der Geschichte der „Führerschule“ und die begleitende historisch-politische Bildungsarbeit.
Der Verein Beth Zion e. V. wurde 2003 von der Familie Skoblo gegründet. Beth Zion e. V. fördert die Ausbildung und leistet einen wichtigen Beitrag zur Wiederentstehung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in Berlin. Beth Zion e. V. erwarb u. a. die ehemaligen Synagoge Brunnenstraße samt angrenzendem Gebäudeensemble und gründete dort nach umfassender Renovierung und Umbau eine Talmud-Thora Schule. In Alt Rehse soll diese Arbeit eine wichtige Ergänzung finden.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung nimmt die Interessen von 165.000 freiberuflichen Ärztinnen und Ärzten und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wahr. Zusammen mit den kassenärztlichen Vereinigungen der Länder ist die KBV der Garant für die ambulante ärztliche Versorgung aller gesetzlich Versicherten.
Dank der langjährigen Unterstützung der Landesregierung bei den Bemühungen von vielen Einzelpersonen, Initiativen und der GAR, eine dauerhafte umfassende Erinnerungsarbeit in Alt Rehse abzusichern, konnte die Bewilligung der Bundesgedenkstättenförderung erreicht werden. Der „Lern- und GeDenkOrt Alt Rehse“ wird künftig vom Bund durch die Beauftrage der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und vom Land Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen der Bundesgedenkstättenförderung unterstützt. Die Aufnahme in die Bundesgedenkstättenförderung würdigt die einzigartige Bedeutung des Ortes in der deutschen Gedenkstättenlandschaft und das Profil des „Lern- und GeDenkOrtes Alt Rehse“. Dem Förderantrag der Gutshaus Alt Rehse gGmbh mit dem Vorhaben, im historischen Gutshaus einen „Lern- und GeDenkOrt“ einzurichten, wurde 2014 nach positiver Begutachtung durch das Expertengremium beim BKM zugestimmt.
Die baufachliche Prüfung ergab dann jedoch, dass die Sanierung des Gutshauses den Förderrahmen übersteigen würde. Ein anderes geeignetes Gebäude in Alt Rehse musste gefunden werden, alle Detailplanungen angepasst und erneut begutachtet werden. Seit 2016 stehen nun die Mittel bereit, um das 1993 errichtete ehemalige „Limnologische Institut“ am östlichen Ortsrand umzubauen.
Die Verhandlungen über den Erwerb der Liegenschaft mit dem Eigentümer sind erfolgreich abgeschlossen worden. Gegenwärtig kann ein Teil der noch unsanierten Räume bereits zur Präsentation von Ausstellungen und für den Seminar- und Tagungsbetrieb genutzt werden. Um den Eigenanteil (rund 900.000 Euro) für den Abruf der Mittel der Bundesgedenkstättenförderung (je 1,65 Mio. Euro von Bund und Land) und den laufenden Bildungsbetrieb abzusichern, sind GAR und EBB auch zukünftig auf weitere Unterstützung und Spenden angewiesen.
Auf dem Weg zum „Lern- und GeDenkOrt Alt Rehse“ – das Konzept
Der „Lern- und GeDenkOrt Alt Rehse“ will nicht nur die Geschichte präsentieren, sondern neue Akzente im wissenschaftlichen, pädagogischen und touristischen Angebot setzen.
So wird er sich auch der Ethik im Gesundheitswesen in Gegenwart und Zukunft widmen. Attraktive Veranstaltungen richten sich im Rahmen der Aus- und Weiterbildung an alle medizinischen Berufsgruppen, überdies an Geschichtsinteressierte und ein breites Publikum. Insbesondere Mitglieder der medizinischen Berufe werden Angebote zur beruflichen Weiterbildung finden.
Der „Lern- und GeDenkOrt“ wird eine Dauerausstellung zur Geschichte und Bedeutung der „Führerschule“, zur DDR-Geschichte des Ortes und thematisch ergänzende Wechselausstellungen bieten. Kulturelle Aktivitäten wie Lesungen, Vorträge und musikalische Veranstaltungen werden das Angebot abrunden.
Das „Alt Rehser Wissenschaftsforum“ widmet sich der Ethik im Gesundheitswesen und NS-Medizingeschichte und begleitet Forschungsprojekte. Hier tauschen sich renommierte Ethiker, Mediziner und Historiker zu Themen wie Stammzellenforschung, Präimplantationsdiagnostik oder assistiertem Suizid aus. In der Schriftenreihe des Wissenschaftsforums erscheinen regelmäßig Studien und Forschungsarbeiten zur Medizingeschichte des Nationalsozialismus. Ein prominent besetzter wissenschaftlicher Beirat begleitet seit 2009 die Forschungs- und Bildungsarbeit in Alt Rehse. Etabliert haben sich seit 2011 die internationalen Ethik-Tagungen in Alt Rehse. Der „Lern- und GeDenkOrt Alt Rehse“ will dieses und andere Formate fortführen und erweitern.
Die Dauerausstellung
Für die geplante Dauerausstellung sind die zentralen Themenkomplexe erarbeitet und mit dem wissenschaftlichen Beirat der EBB Alt Rehse diskutiert und abgestimmt worden.
1. Von der Eugenik zur nationalsozialistischen Rassenhygiene
2. Gleichschaltung der Ärzteschaft im Nationalsozialismus
3. Ästhetik und Funktion der „Führerschule“
4. Schulungslager und „Volksgemeinschaft“
5. Konsequenzen der Rassenideologie - Ethik der Medizin im Nationalsozialismus
6. Biographien und Karrieren - Der Nürnberger Ärzteprozess - Entnazifizierung?
7. Nachnutzung der „Führerschule“: Verdrängung der Geschichte des Ortes und staatlicher
Antifaschismus in der DDR - Restitutionsansprüche nach 1990
8. Ethik im Gesundheitswesen
9. Multivision – Filmvorführungen
Dieses vorläufige Rahmenkonzept ist die Leitlinie für die noch zu erbringende Forschungsarbeit (Exponatrecherche) und die sich daran anschließende Ausarbeitung der Ausstellungskonzeption bis zum Drehbuch. Dabei wird die Erarbeitung des pädagogischen Konzeptes parallel in Angriff genommen und wechselseitig abgestimmt.
Der Diskurs der letzten Jahre macht deutlich, dass in schneller Abfolge (z. B. Stammzellforschung, Humangenom, PID, Organspende/-transplantation, Patientenverfügung, Sterbebegleitung usw.) neue Themen im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Der Ausstellungsteil zur „Ethik im Gesundheitswesen“ wird so gestaltet, dass er den jeweils aktuellen Themen der Ethik-Diskussion schneller angepasst werden kann, als dies bei Dauerausstellungen möglich ist, auch das Design wird sich von der Dauerausstellung unterscheiden. Da dieser Ausstellungsteil (Obergeschoss) auch räumlich von der historischen Argumentation (Erdgeschoss) abgesetzt ist, wird deutlich, dass keine Gleichsetzung der aktuellen Themen mit der NS-„Euthanasie“ suggeriert werden soll, auch wenn sich in Deutschland diese Diskussion immer vor dem Hintergrund unserer Geschichte entwickeln wird.
Ergänzend zur Dauerausstellung werden Wechselausstellungen gezeigt, die Einzelthemen vertiefen und neue Forschungsergebnisse präsentieren.
Die pädagogische Arbeit
Besucher sollen zunächst anhand der Ausstellung und der pädagogischen Angebote über die Geschichte von Alt Rehse und der „Führerschule“ informiert werden. Sie begegnen in Alt Rehse einer Architektur, die die NS-Ideologie spiegelt. Die vermeintliche Heimeligkeit der Blut-und-Boden-Ideologie implizierte untrennbar den ausgrenzenden Charakter der Rassenhygiene. Dieser Zusammenhang ist nicht ohne Weiteres am äußeren Erscheinungsbild erkennbar, sondern muss in der multiperspektivischen pädagogischen Arbeit herausgearbeitet werden.
Ein dezentrales Leitsystem wird darüber hinaus das Flächendenkmal Alt Rehse bei einem Rundgang durch das Dorf für Besucher erschließen. An zentralen Stellen des Ortes werden Infopunkte installiert, die über die Geschichte, Bedeutung und Ästhetik des Flächendenkmals informieren und auf den „Lern- und GeDenkOrt“ und seine vertiefenden Angebote hinweisen. Diese sollen die Besucher motivieren, die Ausstellung zu besichtigen und den Ort eigenständig mit Multimedia-Angeboten zu erkunden. Die Technologie bei den Multimedia-Guides unterliegt zur Zeit einer rasanten Entwicklung. In Alt Rehse wird nach den gegenwärtigen Überlegungen eine App für die Nutzung auf besuchereigenen Smartphones und auf Leihgeräten zum Einsatz kommen, durch die Informationen mit individuell wählbaren Vertiefungsebenen abgerufen werden können.
Andernorts erinnern Gedenkstätten oder Denkmale an dortige Verbrechen oder an den Abtransport von Patienten in eine Tötungsanstalt. Der Aspekt der NS-Psychiatrieverbrechen hat somit in der deutschen Erinnerungskultur einen Platz gefunden. Diese Ereignisse basieren auf der Ideologie des sogenannten „Volkskörpers“, der bislang mit keinem konkreten Lernort in Verbindung gebracht wurde.
Alt Rehse ist kein Ort, der primär den NS-Medizinverbrechen gewidmet ist. Besucher sollen ermuntert werden, der Frage nachzuspüren, wohin medizinischer Fortschrittsglaube und der Wunsch nach der „Aufbesserung der menschlichen Rasse“ während des Nationalsozialismus führte.
Auch Menschen, die sich aktuell angesprochen fühlen von ethnozentrischen Argumentationen, die zudem mit der vermeintlichen Reinheit der Völker begründet werden, haben in Alt Rehse die Chance, sich mit den Auswirkungen einer solchen Ideologie zu beschäftigen. Der aktuelle medizinische Fortschritt erlaubt überdies eine vergleichende Betrachtung zu heutigen Entwicklungen der Bioethik. Hier geht es keineswegs um leichtfertige Analogien, dennoch sollen Parallelen in der Denkweise damaliger und heutiger Eugeniker kritisch reflektiert werden. Ferner geht es in diesem Kontext um eine Problematisierung, welche Argumente heute der Gesellschaft Kompass sind bei der Akzeptanz von behinderten, kranken oder alten Menschen, die nicht „produktiv“ sind.
Die Ausstellung stellt damit Gegenwartsbezüge her und beschreibt nicht allein historische Vorgänge.
Neben Touristen, die intentional oder ohne Vorkenntnisse über die Geschichte des Ortes nach Alt Rehse kommen, werden aufgrund der Historie des Ortes Angehörige medizinischer Fachberufe als eine Hauptzielgruppe angesehen. Des Weiteren ist an Schüler zu denken, aber auch an Studierende der Lehrberufe. Ein wichtiges Anliegen ist die besondere Berücksichtigung von Personengruppen, die im Nationalsozialismus von rassenhygienischen Maßnahmen betroffen gewesen wären, nämlich Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten.
Die Bildungsangebote sollen in Alt Rehse, wo einst die Ausgrenzung „unwerten Lebens“ vermittelt wurde, durch die konsequente Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen („von der Exklusion zur Inklusion“) barrierefrei und inklusiv gestaltet werden.
Die Barrierefreiheit wird dabei nicht auf räumliche Zugänglichkeit (Aufzüge, Rampen etc.) reduziert. Bei der Gestaltung der Ausstellung und der pädagogischen Materialien werden die Bedürfnisse von Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen, aber auch mit Lernschwierigkeiten beachtet. Der Lernort Alt Rehse will diese Menschen als Zielgruppe gewinnen. Dafür ist es notwendig, die Ausstellung in Leichte Sprache zu übersetzen und die Inhalte über ergänzende Angebote zu vermitteln.
Das Bauprojekt: Barrierefrei, nachhaltig und energieeffizient
Diese konzeptionellen Vorarbeiten mündeten in wohlüberlegte Anforderungen an den anstehenden Umbau des ehemaligen Limnologischen Instituts. In einem Architekturwettbewerb überzeugte im Februar 2017 das Rostocker Büro „buttler architekten“, das auf nachhaltiges und energieeffizientes Bauen von Projekten mit musealer und pädagogischer Nutzung spezialisiert ist, mit seiner Umbauplanung die internen und externen Gutachter.
Das umgestaltete Laborgebäude aus den 1990er Jahren wird den „Lern- und GeDenkOrt Alt Rehse“ aufnehmen. Der Umbau wird unter den Gesichtspunkten Barrierefreiheit und energetischer Sanierung einen innovativen architektonischen Ansatz verwirklichen.
Die Konzeption von „buttler architekten“ nutzt den vorhandenen Baukörper, reduziert diesen und nimmt regionale architektonische Vorbilder auf, wie die Form von Feldscheunen. Als Material der Außenhaut der Fassade schlägt das Architekturbüro wetterfesten Corten-Stahl in gelochter Optik vor.
Das Raumkonzept sieht im Erdgeschoss die Dauerausstellung über die Geschichte des Ortes Alt Rehse und die „Führerschule“ vor. Für die pädagogische Arbeit sind drei moderne und flexibel nutzbare Seminarräumen und ein E-Learning-Bereich vorgesehen. Seminarteilnehmer und Besucher werden auch einen attraktiven Cafeteriabereich vorfinden. Das gesamte Gebäude wird konsequent barrierefrei gestaltet sein. Die Ausstellung wird mehrsprachig und auch in Leichter Sprache zugänglich sein. Über eine Treppe und einen Fahrstuhl kann das Obergeschoss erreicht werden, wo die Ausstellung zum Thema „Ethik im Gesundheitswesen“ weitergeführt wird und Platz für Wechselausstellungen zur Verfügung steht. Ein großer Veranstaltungssaal wird für Tagungen, Filmabende, Lesungen und Konzerte genutzt werden. Eine Bibliothek und ein Archiv steht Lerngruppen und der Forschung offen. Dazu kommen die Büros für die Mitarbeiter der Einrichtung. Die Gesamtnutzfläche auf zwei Etagen beträgt 1600 m², für die Ausstellungsbereiche stehen rund 550 m² zur Verfügung. Die hier vorgestellten Pläne sollen bis 2021 umgesetzt werden.
Hier finden Sie Links zu einigen Artikeln, die im Deutschen Ärzteblatt zum Thema Alt Rehse erschienen:
Michael Wunder, Alt Rehse: Ein Ort auch für Gegenwartsthemen
Rainer Stommer, Alt Rehse – Idylle und Verbrechen: Was wir von bösen Orten lernen können